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EuGH: Schlussanträge im Glyphosat-Verfahren
Die Region Brüssel-Hauptstadt erhob am 8. März 2018 beim Gericht der EU Klage auf Nichtigerklärung der Durchführungsverordnung (EU) 2017/2324 der Kommission zur Erneuerung der Genehmigung des Wirkstoffs Glyphosat. Das Gericht erklärte die Klage mit dem angefochtenen Beschluss wegen fehlender Klagebefugnis für unzulässig. Das Gericht stellte insbesondere fest, dass die Region Brüssel-Hauptstadt von der angefochtenen Verordnung nicht unmittelbar betroffen sei. Mit ihrem Rechtsmittel beantragt die Region Brüssel-Hauptstadt, den angefochtenen Beschluss aufzuheben, die Nichtigkeitsklage für zulässig zu erklären und die Rechtssache an das Gericht zurückzuverweisen.
In seinen Schlussanträgen vertritt Generalanwalt Michal Bobek die Auffassung, die Ablehnung der Klagebefugnis der Region Brüssel-Hauptstadt durch das Gericht sei rechtsfehlerhaft, da es Art. 263 Abs. 4 AEUV sowie mehrere Bestimmungen des anwendbaren sekundären Rechts fehlerhaft ausgelegt habe.
Generalanwalt Bobek weist darauf hin, dass nach Art. 263 Abs. 4 AEUV eine Klage einer natürlichen oder juristischen Person gegen eine nicht an sie gerichtete Handlung in zwei Fällen zulässig sein könne. Zum einen könne eine solche Klage erhoben werden, wenn die Handlung diese Person unmittelbar und individuell betreffe. Zum anderen könne sie gegen einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich zieht, Klage erheben, wenn dieser Rechtsakt sie unmittelbar betreffe.
Im Rahmen allgemeiner Anmerkungen zum Begriff „unmittelbare Betroffenheit“ führt Generalanwalt Bobek aus, dass nach ständiger Rechtsprechung die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit erfüllt sei, wenn zwischen dem angefochtenen Unionsrechtsakt und der Änderung der Rechtslage des Klägers ein unmittelbarer Kausalzusammenhang festgestellt werden könne. Die Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit sei nicht erfüllt, wenn es ein zusätzliches Eingreifen der Unionsorgane oder der nationalen Behörden gebe, das geeignet sei, diesen Zusammenhang zu unterbrechen.
Generalanwalt Bobek unterstreicht den Grundgedanken der Rechtsprechung zur unmittelbaren Betroffenheit: „Wird ein Gemeinschaftsrechtsakt von einem Organ an einen Mitgliedstaat gerichtet und hat die von dem Mitgliedstaat aufgrund des Rechtsakts vorzunehmende Handlung automatischen Charakter oder ist jedenfalls das Ergebnis nicht zweifelhaft, so betrifft der Rechtsakt jede Person unmittelbar, die durch diese Handlung beeinträchtigt wird. Räumt der Rechtsakt hingegen dem Mitgliedstaat die Möglichkeit ein, zu handeln oder nicht zu handeln, so ist es das Handeln oder Nichthandeln des Mitgliedstaats, das diese Person unmittelbar betrifft, und nicht der Rechtsakt selbst. Mit anderen Worten, der fragliche Rechtsakt darf, um seine Wirkungen zu entfalten, nicht von der Ausübung eines Ermessens durch einen Dritten abhängen, sofern nicht offensichtlich ist, dass ein solches Ermessen nur in einem bestimmten Sinne ausgeübt werden kann.“
Im Anschluss an die Feststellung, dass es sich bei föderalen Einheiten der Mitgliedstaaten ihrem Wesen nach nicht einfach um irgendeine (private) natürliche oder juristische Person handelt, die ein nicht privilegierter Kläger ist, untersucht Generalanwalt Bobek, wie diese Grundsätze auf Regionen oder andere Gebietskörperschaften angewendet werden.
Insoweit stellt Generalanwalt Bobek fest, dass die Rechtsprechung zu föderalen Einheiten nahelegt, dass eine Region oder andere Gebietskörperschaft von einem Unionsrechtsakt betroffen ist, wenn sie mit Befugnissen ausgestattet ist, die im Rahmen der nationalen Verfassungsordnung des betreffenden Mitgliedstaats autonom ausgeübt werden, und der Unionsrechtsakt diese Körperschaft an der Ausübung dieser Befugnisse nach eigenem Ermessen hindert. Generalanwalt Bobek fügt hinzu, dass allein der Umstand, dass eine Region irgendeine Zuständigkeit – als für wirtschaftliche, soziale oder umweltbezogene Fragen in ihrem Gebiet zuständige Stelle – für den durch eine Unionsmaßnahme mit allgemeiner Geltung geregelten Bereich habe, für sich genommen noch nicht ausreichen könne, um diese Region als „betroffen“ im Sinne von Art. 263 Abs. 4 AEUV anzusehen. Mit anderen Worten dürften Regionen Unionsrechtsakte, die ihre Interessen in allgemeiner Weise betreffen, nicht anfechten. Hierfür sei etwas darüber Hinausgehendes erforderlich, nämlich eine unmittelbare Einschränkung der Ausübung einer der Region auf der Verfassungsebene des Mitgliedstaats zugewiesenen konkreten Befugnis.
Insoweit hält Generalanwalt Bobek das Vorbringen der Region Brüssel-Hauptstadt für begründet, wonach einige ihrer Argumente zur Zulässigkeit der Klage verkannt worden seien. Anstatt zu prüfen, ob die angefochtene Verordnung die Region Brüssel-Hauptstadt daran hinderte, bestimmte konkrete Befugnisse auszuüben, sei das Gericht in seiner Würdigung zu der Prüfung übergegangen, ob die Beteiligung der Region an den Zulassungsverfahren für die Feststellung einer unmittelbaren Betroffenheit als ausreichend angesehen werden könne.
Daher stimmt Generalanwalt Bobek der Region Brüssel-Hauptstadt darin zu, dass das Gericht sich mit ihrem Vorbringen nicht auseinandergesetzt habe, wonach die angefochtene Verordnung an sich sie an der Ausübung ihrer autonomen Befugnisse nach eigenem Ermessen gehindert habe. Generalanwalt Bobek kommt zu dem Ergebnis, dass das Gericht Art. 263 AEUV bei der Prüfung der Voraussetzung der unmittelbaren Betroffenheit fehlerhaft ausgelegt habe. Die angefochtene Verordnung entfalte Rechtswirkungen, die die Rechtsstellung der Region Brüssel-Hauptstadt in mindestens vierfacher Hinsicht änderten. Erstens habe die Region Brüssel-Hauptstadt ihre autonomen Befugnisse zur Regelung der Verwendung von Pflanzenschutzmitteln in ihrem Gebiet nicht nach eigenem Ermessen ausüben können. Zweitens habe die angefochtene Verordnung die belgischen Behörden einschließlich der Region Brüssel-Hauptstadt verpflichtet, die Gültigkeit der bestehenden Zulassungen für den gesamten Zeitraum aufrechtzuerhalten, der für den Abschluss der Verfahren zur Erneuerung dieser Zulassungen erforderlich war. Drittens habe die angefochtene Verordnung ein Verfahren in Gang gesetzt, an dem die Region Brüssel-Hauptstadt sich verpflichtend habe beteiligen müssen und in dem sie weder de iure noch de facto von den ihr nach der belgischen Verfassung zugewiesenen Befugnissen habe Gebrauch machen können. Viertens habe die angefochtene Verordnung die Region Brüssel-Hauptstadt auch verpflichtet, nach dem System der gegenseitigen Anerkennung jede von einem zur selben Zone gehörenden Mitgliedstaat erteilte Zulassung anzuerkennen. Trotz der Zweifel der Region Brüssel-Hauptstadt hinsichtlich der allgemeinen Schädlichkeit von Glyphosat sei sie nicht berechtigt, die Anerkennung zu verweigern, sofern sie nicht gegen ihre unionsrechtlichen Pflichten handle.
Im Zuge einer Betrachtung von Regionen und anderen föderalen Einheiten als Streitparteien vor den Unionsgerichten weist Generalanwalt Bobek darauf hin, dass den europäischen Regionen innerhalb des europäischen Projekts eine wichtige Rolle zukomme. Darüber hinaus könnten Regionen oder andere föderale Einheiten der Mitgliedstaaten für die Umsetzung des Unionsrechts in Bereichen verantwortlich sein, die in ihre Zuständigkeit fielen. Daher schlägt Generalanwalt Bobek vor, dass immer dann, wenn offenkundig einer föderalen Einheit des Mitgliedstaates nach der nationalen Verfassung besondere autonome Befugnisse in einem bestimmten Bereich zugewiesen seien, die sie als unmittelbare Folge einer Unionsmaßnahme nicht nach eigenem Ermessen ausüben könne, diese Einheit zur Anfechtung der betreffenden Handlung befugt sein sollte.
Generalanwalt Bobek ist der Ansicht, dass die übermäßig restriktive Tendenz bei der Auslegung und Anwendung der Regeln über den Zugang zu den Unionsgerichten Anlass zu Bedenken gibt. Lese man die Rechtsprechung der Unionsgerichte, insbesondere die zahlreichen Beschlüsse des Gerichts, mit kritischem Blick, könne man nur überrascht sein, wie viel Eifer und Kreativität bei der Feststellung des Fehlens einer unmittelbaren Betroffenheit oder gar eines Rechtsschutzinteresses an den Tag gelegt würden.
Generalanwalt Bobek schließt mit zwei strukturellen Aspekten, die für eine offenere Auslegung der Kriterien der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit sprächen, zumindest für bestimmte Kategorien von atypischen nicht privilegierten Klägern wie den Regionen in Rechtssachen wie der vorliegenden. Er verweist erstens auf die geänderte Architektur der Unionsgerichte. Zweitens führt er aus, in Rechtssachen mit komplexen, regulatorischen und technischen Zusammenhängen, in denen eine umfassendere Beweiserhebung, Sachverständigengutachten oder (wissenschaftliche) Daten erforderlich seien, sollte zunächst eingehend mit vollständiger Beweis- und Datenerhebung sowie unter Anhörung der Streithelfer vor einem erstinstanzlichen Gericht, dem Gericht der Union, in der Sache verhandelt werden, bevor sie möglicherweise danach im Rechtsmittelverfahren vor dem Gerichtshof anhängig würden.
Nachdem er zu dem Ergebnis kommt, das Gericht habe die Klage im ersten Rechtszug zu Unrecht mit der Begründung für unzulässig erklärt, dass die Rechtsmittelführerin nicht unmittelbar betroffen sei, fährt Generalanwalt Bobek mit der Prüfung fort, ob die übrigen Voraussetzungen für die Klagebefugnis der Region Brüssel-Hauptstadt nach Art. 263 Abs. 4 AEUV erfüllt sind. Er schlägt dem Gerichtshof vor, festzustellen, dass die Region Brüssel-Hauptstadt sowohl individuell als auch unmittelbar von der angefochtenen Maßnahme betroffen sei und dass die Region Brüssel- Hauptstadt einen Rechtsakt mit Verordnungscharakter angefochten habe, der keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehe.
HINWEIS: Die Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein.
Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
HINWEIS: Beim Gerichtshof kann ein auf Rechtsfragen beschränktes Rechtsmittel gegen ein Urteil oder einen Beschluss des Gerichts eingelegt werden. Das Rechtsmittel hat grundsätzlich keine aufschiebende Wirkung. Ist das Rechtsmittel zulässig und begründet, hebt der Gerichtshof die Entscheidung des Gerichts auf. Ist die Rechtssache zur Entscheidung reif, kann der Gerichtshof den Rechtsstreit selbst entscheiden. Andernfalls verweist er die Rechtssache an das Gericht zurück, das an die Rechtsmittelentscheidung des Gerichtshofs gebunden ist.
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