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Fassadenbegrünung: Ökosysteme an der Wand
Der Verlust der biologischen Vielfalt ist neben dem Klimawandel eine der größten Bedrohungen für den Menschen, darauf wiesen Experten der Vereinten Nationen bereits 2019 hin. Laut Bundesamt für Naturschutz (BfN) sind allein in Deutschland 26,2% von knapp 6.750 Insektenarten in ihrem Bestand gefährdet, bei den Wildbienen sind es bereits über die Hälfte. Logisch, dass dies auch Auswirkungen auf andere Tiere hat. Vor allem bei Vögeln, die sich und ihre Jungen während der Brutzeit überwiegend mit Insekten ernähren, beobachtet man seit einigen Jahren starke Bestandsrückgänge. Von den 291 Brutvögeln hierzulande steht fast jede zweite Art auf der Roten Liste.
Die Gründe für den Insektenschwund sind vielfältig. Als Haupttreiber gelten die intensive Landwirtschaft und der hohe Einsatz von Pestiziden, aber auch die Klimakrise sowie die zunehmende Verstädterung und Flächenversiegelung. Gleich zwei Forschungsprojekte in Baden-Württemberg untersuchen deshalb derzeit, welchen positiven Effekt begrünte Fassaden im hochverdichteten urbanen Raum auf die Artenvielfalt haben können. Dafür wurden Teile einer Hallenkonstruktion und eines Bürogebäudes am Fraunhofer Campus in Stuttgart-Vaihingen entsprechend lebendig gestaltet. Die beiden Projekte, die die Namen „BioDivFassade" und „Die wilde Klimawand" tragen, werden kooperativ betreut durch Wissenschaftler*innen der Universität Stuttgart und des Fraunhofer-Instituts. Gefördert werden ihre Arbeiten vom Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft (BMEL), dem Klimainnovationsfond der Stadt Stuttgart sowie von „The Nature Conservancy Europe“.
Neuer Anspruch an die vertikale Vegetation
Im Herbst 2022 begann die Planung zur Fassadenbegrünung. Als Partner holten sich die Wissenschaftler*innen die Spezialisten der Helix Pflanzensysteme GmbH aus Kornwestheim mit ins Boot. Gemeinsam wurde erörtert, welche Gewächse für die vertikale Begrünung mit speziellem Fokus auf Biodiversität ideal sind. „Dieses Projekt ist für uns etwas ganz Besonderes. Wir mussten uns neuen Herausforderungen stellen und haben dabei viel gelernt“, erzählt Gartenbauingenieurin Juliane Petersohn von Helix begeistert. „Bei anderen Aufträgen sind zumeist vor allem die Optik sowie geringe Pflegeintensität entscheidende Aspekte der Fassadenbegrünung. Hier standen plötzlich die Insekten und Kleintiere im Mittelpunkt. Die verwendeten Pflanzenarten wurden beispielsweise anhand eines wissenschaftlich erforschten Wildbienenscore ausgewählt, der aufzeigt, welche Insekten ein Gewächs als Pollenquelle nutzen. Der Anspruch war, ihnen mit der Vegetation von Frühjahr bis Spätherbst ein möglichst großes Nahrungsangebot zu bieten. Neben unterschiedlichen Wildstauden, Kräutern, Wiesenblumen und Gräsern integrierten wir daher auch Beikräuter wie Löwenzahn, Disteln oder Klee. Denn auch sie sind für Insekten, insbesondere Wildbienen, ungemein wichtig. Allerdings ist es für eine Gärtnerei gar nicht so einfach, Samen von Pflanzen zu bekommen, die nicht klassisch gezüchtet werden. Da mussten wir schon sehr unkonventionell und einfallsreich vorgehen. Speziell für dieses Projekt haben wir zudem die Altersform des Gemeinen Efeus kultiviert. Anders als Jungpflanzen klettert diese nicht mehr, sondern entwickelt sich strauchartig und trägt Blüten und Früchte, die bis in den November hinein eine wichtige Nahrungsquelle für die heimische Tierwelt darstellen.“
Elata und Biomura
Mehr als 6.000 Einzelpflanzen und über 70 Arten kann man jetzt auf einer 200 Quadratmeter großen vertikalen Fläche am Fraunhofer-Institut entdecken. Zum Einsatz kamen die beiden Grünfassadensysteme 'Helix Biomura' sowie 'Helix Elata'. Die aus recyceltem Kunststoff hergestellten 'Biomura'-Pflanzkassetten sind jeweils 60 mal 40 Zentimeter groß und verfügen über je 16 Pflanzlöcher. Stauden, Kräuter und Co. wurzeln hier in einer anorganischen Mineralwolle mit sehr niedrigem Trockengewicht. Da für die Unterkonstruktion Trägerschienen aus verzinktem Stahl an die Wand angebracht werden, ist ‘Biomura‘ vergleichbar mit einer vorgehängten, belüfteten Fassade. Beim System ‘Elata‘ wachsen vor allem Kletterpflanzen in mit Granulat gefüllten, speziellen Kästen und beranken ein stabiles Metallgitter. So bilden sie schon nach kürzester Zeit eine üppig grüne Pflanzenwand. Beim Stuttgarter Forschungsprojekt stehen die Pflanzkästen sowohl auf dem Boden, als auch auf einem Balkon in der zweiten Etage. Es hätte aber auch die Möglichkeit bestanden, sie direkt an der Wand zu verankern. Bereits ab Januar 2023 wurden die ausgewählten Pflanzenkombinationen in den Begrünungssystemen im Gewächshaus vorkultiviert, so dass sich beim Anbringen der Kästen und Kassetten Ende Mai bereits eine ansehnliche Vegetationsschicht gebildet hatte. Die Installation dauerte insgesamt vier Tage.
Lebensräume für die urbane Fauna schaffen
Um die Biodiversität der Fauna zu erhöhen, reicht es allerdings nicht aus, nur das Nahrungsangebot zu verbessern. Auch Lebensräume für die Tiere müssen geschaffen werden. „Die hier installierte Fassadenbegrünung zeichnet sich durch eine hohe Arten- und damit auch Strukturvielfalt aus. So ist sie an die unterschiedlichsten Bedürfnisse von Insekten, Vögeln und Fledermäusen angepasst“, erklärt Dr.-Ing. Pia Krause vom Fraunhofer-Institut für Bauphysik. „In den Bewuchs wurden außerdem verschiedene Habitatstrukturen aus mineralischen und organischen Materialien integriert. Da befinden sich beispielsweise Nistkästen für Höhlenbrüter, Fledermauskästen, aber auch Totholz, welches Lebensraum vieler Insekten ist, oder Kästen mit ungewaschenem Sand, in dem sich bodennistende Wildbienenarten eingraben können. Ziel war es, dass Nahrungsangebot und Nistplatzstruktur symbiotisch in der Vertikalen wirken.“
„Bereits wenige Wochen nach der Installation konnten zahlreiche Tiere, darunter viele wichtige Bestäuberinsekten – wie verschiedene Wildbienen-, Schwebfliegen- und Schmetterlingsarten – auf den begrünten Wänden gesichtet werden“, berichtet Dipl. ing. Eva Bender vom Institut für Landschaftsplanung und Ökologie der Universität Stuttgart. „Nach etwa sechs Wochen siedelte sich das erste Amselpaar an und brütete gut versteckt zwischen Minzblättern. Fledermäuse wurden bereits bei der Nahrungssuche in den Abendstunden vor der Fassade gesichtet, die Kästen sind aber noch unbewohnt.“ Ein Vogelkasten wurde allerdings von einem Hornissenvolk bezogen, was die Wissenschaftler*innen ebenfalls freute.
Langfristig soll in Stuttgart u.a. auch erforscht werden, wie ein solches Grünsystem auf das Mikroklima und damit auf die Habitatqualitäten für Flora und Fauna wirkt. „Wir wissen, dass gebäudebrütende Vogelarten wie der Mauersegler in den letzten Jahren unter stark aufgeheizten Niststrukturen leiden. Dies kann dazu führen, dass der Nachwuchs vorzeitig das Nest verlässt und verendet“, so Krause. „Erste Untersuchungen zeigen, dass die vertikale Vegetation durch Beschattung und Verdunstung zu einer deutlichen Reduzierung der Hitzebelastung im direkten Umfeld beiträgt.“ Von diesem Effekt profitieren übrigens nicht allein Vögel und Co., auch die Menschen im Gebäude spüren das deutlich.
Vielfalt erhalten und fördern
Nicht nur was die Bepflanzung angeht, auch in Bezug auf das Pflegekonzept unterscheidet sich die Fassadenbegrünung am Fraunhofer-Institut von anderen, berichtet Petersohn: „Die Bewässerung erfolgt hier – wie üblich – automatisch und kann mit Hilfe von Sensoren digital kontrolliert und gesteuert werden. Beim regelmäßigen Rückschnitt gelten jedoch ganz andere Regeln. Ziel ist es, die Vielfalt zu erhalten und zu fördern. Das bedeutet, dass sich ansiedelnde Spontanvegetation – sagen wir beispielsweise Brennnesseln – aufgrund ihrer hohen ökologischen Bedeutung nicht von der Wand entfernt wird. Lediglich, wenn sich solche Pflanzen zu breit machen und andere Gewächse zu verdrängen drohen, werden sie etwas zurechtgestutzt. Selbst vertrocknete oder abgestorbene Pflanzenteile schneiden wir nur sehr behutsam zurück, denn sie sind wichtige Habitatstrukturen für die Tierwelt.“
Für die Forschungsprojekte „BioDivFassade" und „Die wilde Klimawand" wurden in Stuttgart neue Prototypen für eine Gebäudebegrünung geschaffen, die in den nächsten Jahren genauestens wissenschaftlich untersucht und analysiert werden. Die erhobenen Daten werden zeigen, inwieweit man mit solchen baulichen Maßnahmen zukünftig zur Reduzierung der Hitzebelastung sowie zur Förderung der Biodiversität in urbanen Räumen beitragen kann.
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